Nächtliche Besucher

Den zweiten Abend lässt du dich länger im Boot treiben, flutest mit deiner Mundharmonika das Tal. Der Feuerball verschwindet am Horizont. Das lässt die Zikaden ihr lautes Liebeszirpen anstimmen. Zur Partnerwerbung gedacht, gilt das Geräusch allen Stechmücken als Aufruf zur Jagd. Zahllose Moskitos warten darauf, dein Blut zu saugen. Hastig verankerst du ein Moskitonetz im Geäst am Ufer. Du befindest dich in einem kleinen konischen Raum, an dessen oberstem Ende ein Ring ist. Du bist längst aus der Zeit heraus, den Ring anzustarren und dich in Träumen zu verlieren, bist über das vorpubertären Alter hinaus, als man Träume noch nicht bannen konnte, indem man sich fragte, ob man träumt. Je länger du die dunklen Wolken ansiehst, desto mehr verändern sie sich, zuerst gleichen sie einem Kamel, dann einer Frau, dann einem Alten mit einem langen Bart. Das ist so, wie Wände mit Wasserrändern in einem alten Haus. Diese Ränder, auch wenn sie schon lange da sind, werden jedes Mal anders sein. Zuerst siehst du ein menschliches Gesicht, wenn du wieder hinschaust, ist es ein toter Hund, die Eingeweide hängen heraus, dann verwandeln sich die Spuren in einen Baum, unter dem ein Mädchen, es reitet auf einem mageren Pferd.

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Du weißt nicht, wie lange du schon geschlafen hast. Nahendes Motortuckern lässt dich aufschnellen. Ein halbes Dutzend Taschenlampen suchen unruhig das Ufer ab. Schon hörst du Stimmen. Ein Sprung aus dem Schlafsack, ein griff zum vorbereiteten Rucksack samt Geld und Pass. Du stolperst einen Pfad hinauf. Gerade als der erste Lampe die Sandbucht mit deinem Boot ertastet, springst du in den Lichtschatten einer Klippe. Dein Herz pocht. Männer steigen aus. „Falang! Falang!“ – Ein Ausländer! Ein Ausländer!, verstehst du, dann findet ein Mann deine Spur. Der steile Uferurwald fast wie eine Mauer – über Äste und Felsen dringst du zehn Meter in ihn ein, verharrst eingekeilt zwischen zwei Baumstümpfen. Es ist so finster, dass man meint die Schwärze anfassen zu können. Du hörst dein eigenes Körperrauschen. Im Atem holen liegt ein entferntes Hoffen. Im Atem halten findet sich eine Spur Ewigkeit. Glühwürmchen täuschen dich, du glaubst ihr Leuchten seien Taschenlampen. Doch niemand scheint zu folgen. Du hörst weder ein Geräusch eines sich entfernenden Motors noch siehst eine verräterische Lampe. Es ist gerade 22 Uhr. Um 23 Uhr verlässt du dein Versteck. Du tastest dich vorsichtig zurück und wunderst dich, wie du es vor einer Stunde schafftest, diesen Steilhang binnen Sekunden unbeschadet zu überwinden. Am Lagerplatz ist alles unberührt. Wer immer da gewesen war, muss plötzlich Angst bekommen haben. So erklärt sich das völlig lautlose Verschwinden der nächtlichen Besucher. An Schlaf ist erst nach einem Standortwechsel zu denken, diesmal auf ein Plateau ohne Einsicht vom Fluss.