Nach einem Hinweis auf das Hospital der Mutter Teresa suchten wir vergeblich. Gleich neben dem Kali-Tempel an der Straßenecke fanden wir den Eingang. Keine Haustür, nur eine Mauer als Sichtschutz. Ein großes Holzschild mit Verhaltensmaßregeln war darauf angebracht, z.B., den Kranken kein Geld zu geben. Darüber war zu lesen: „Heim für sterbende Arme“ und daneben „Der höchste Zweck des menschlichen Lebens besteht darin, in Frieden mit Gott zu sterben“. In dem großen, grauen Saal, der früheren Pilgerhalle des Kali-Tempels, lagen die Kranken auf einfachen Pritschen, sorgfältig mit blauen Decken zugedeckt. Der Gegensatz zum Chaos vor der Tür hätte nicht mehr krasser sein können: Hier war eine Oase der Ruhe, der Sauberkeit und der Ordnung. Ein Ort, an dem man den Atem anhält und in sich kehrt. Zwei Schwestern in weißen Saris mit blauen Streifen beugten sich liebevoll über die Kranken, um ihnen etwas Wasser zu geben. Ein Jeep hielt am Eingang, und fröhlich miteinander plaudernd luden zwei Schwestern, Missionarinnen der Nächstenliebe, einen riesigen Topf mit Kichererbseneintopf als Abendessen für die Kranken aus und trugen ihn hinein. An diesem Ort ist der Tod genauso gegenwärtig und wie die christliche Nächstenliebe. Niemand verlässt ihn, ohne nachdenklich geworden zu sein, ohne innere Veränderung.
 
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Auf dem Rückweg nach DumDum gerieten wir mehrmals in Staus. Wo kamen nur diese vorsintflutlichen Benzinschleudern her, die hier dermaßen die Luft verpesteten? An einer Kreuzung ging auf einmal gar nichts mehr. Von allen Seiten nur noch Autos, Stoßstange an Stoßstange, soweit das Auge reichte. Über ganz Kalkutta lag eine dicke Smog-Glocke. Der Smog schlug mir auf die Bronchien und vor mich hin hustend dachte ich: „Wie kommen wir hier je wieder raus?“. Verkehrsregeln gab es hier anscheinend keine, von allen Seiten Gehupe und Handzeichen. Irgendwann, nach einer Zeitlang, bewegte sich eines der Autos weiter. Nur träge löste sich der Stau auf. So zog sich die Rückfahrt über zwei Stunden hin. Nach einem Abendessen in unserer Unterkunft fielen wir müde in unsere mit Moskitonetzen umgebenen Betten.
 
Am nächsten Tag sollte am frühen Nachmittag unser Weiterflug nach Nord-Ost-Indien starten. Im Display erschien die Information, dass der Flug vier Stunden Verspätung hatte. Eine lange Zeit für uns, die wir mit einer Mahlzeit und shoppen im Flughafen überbrückten. Der Abflug verzögerte ich immer weiter. Polizeipräsenz war hier nichts Ungewöhnliches. Doch wunderten wir uns über die außergewöhnlich große Verspätung. Zwischen den Mitreisenden entwickelten sich im Warteraum angeregte Gespräche. Auch ein Fernsehjournalist war darunter, der in Erfahrung bringen konnte, dass es eine Bombendrohung gegeben hatte. Bei der zweiten Durchsuchung des Flugzeugs hatte die Polizei tatsächlich ein verdächtiges Paket gefunden, das noch näher untersucht werden müsse. Erst als wir zum zweiten Mal zur Gangway unserer Maschine vorgelassen wurden, durften die sich noch darin befindlichen Passagiere aus- und wir endlich einsteigen. Einige Tage später erfuhren wir durch die Nachrichten, dass das verdächtige Paket nur eine Attrappe war. Mit siebeneinhalb Stunden Verspätung hob unser Flugzeug endlich ab, unserem Reiseziel entgegen: Meghalaya in Nord-Ost-Indien, dem Land, wo die Wolken entstehen.

Autorin: Sigrid Selzer