Durch die Verspätung an der Grenze befürchten wir, im Dunkeln am Baikal-See vorbeizufahren ohne ihn überhaupt zu Gesicht zu bekommen. Plötzlich taucht er jedoch in der hier wieder verschneiten Landschaft auf. Auf einer Strecke von rund 300 km laufen die Schienen direkt an ihm entlang, teilweise keine 10 m vom Ufer entfernt. Wir sind beeindruckt von der gewaltigen Fläche dieses mit über 1600 m tiefsten Sees der Erde, der fast ein Fünftel des Weltsüßwasservorrates enthält. Über die Qualität des Wassers gibt es gegenläufige Meinungen, mal heißt es, es sei so verschmutzt, daß dort keine Fische mehr lebten, von anderer Seite wird behauptet, man könne bis zu 40 m tief nach unten schauen und das Wasser würde ohne weitere Aufbereitung als Trinkwasser unter anderem nach Japan exportiert. Jetzt im Winter trägt er eine bis zu zehn Meter dicke Eisschicht, die dem Autoverkehr eine günstige Abkürzung quer über den See ermöglicht. Am anderen Ufer lassen sich die Berge, die ihn umgeben erkennen. Es reizt unheimlich, bei einem Stopp auszusteigen und bis aufs Eis zu rennen, aber da wir nie genau wissen, wie lange ein Aufenthalt dauert, wollen wir uns nicht zu weit vom Zug entfernen. Schließlich fährt er einfach lautlos an, ohne die Abfahrt beispielsweise durch ein Pfeifen anzukündigen. Wenn man dann noch Gleise überqueren muß, auf denen vielleicht gerade ein zwei Kilometer langer Güterzug vorbeischleicht, verpaßt man unweigerlich seinen Zug. Und ich kenne gewiß Angenehmeres, als mitten im Winter ohne Gepäck und Sprachkenntnisse allein auf einem kleinen Bahnhof irgendwo in Sibirien zurückzubleiben…

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Im Vorbeirollen sehen wir eine einsame kleine Holzhütte mit einem einzelnen Baum idyllisch am Seeufer gelegen, es muß gemütlich sein, dort im Sommer ein paar Tage zu verbringen, aber ein ganzes Leben? Vielleicht ist es ja eine Datscha, eine Art Wochenendhaus mit Garten zur teilweisen Selbstversorgung mit frischem Gemüse, wie sie in Rußland sehr verbreitet sind. Allmählich entfernt sich der Zug vom Baikal-See und schlängelt sich durch die Berge weiter Richtung Westen. Nur noch manchmal gewähren uns die nun dicht an den Schienen stehenden Bäume einen Blick über den See, bis wir uns endgültig abwenden. Während wir noch lange aus dem Fenster schauen und unseren Gedanken nachhängen, kommt der Zug zum Stillstand, und wir lesen: ‘3Δ8ϑΗΦ8’. Irkutsk - wieder ein Ort, der uns aus dem Erdkundeunterricht in Erinnerung ist. Um 1650 wurde er als Militärposten gegründet, der Pelztierjägern und chinesischen Teekarawanen erfolgreich Steuern abknöpfte. 150 Jahre später erlebte die Stadt einen Goldrausch, der zwar nicht mehr anhält, dafür gehört Irkutsk heute zu den weltweit größten Pelzlieferanten und rühmt sich, die freundlichsten Bewohner Sibiriens zu haben. Das Eis auf dem Angara-Fluß hat einige Boote halb versenkt, andere zerdrückt und ans Ufer geschoben. Für uns ist der Stopp mal wieder eine willkommene Abwechslung, uns die Beine zu vertreten. Die Kälte macht uns aber einen Strich durch die Rechnung und treibt uns schnell zurück. Bis auf Greg suchen wir alle den Speisewagen auf, der dem mongolischen im Kitsch keinesfalls nachsteht, allerdings sind die Fenster mit Jalousien verdunkelt. Eine kleine Abwandlung des Essens ist beim besten Willen auch mit Hilfe eines dolmetschenden Russen unmöglich. Die Beilagen seien wohl alle genau abgezählt, erklärt er entschuldigend, deshalb sei es nicht möglich statt Boulette und Ei zwei Eier zu bekommen. Halb so schlimm, tauschen wir eben untereinander. So bekommen wir sieben Portionen Brot, Salat, Reis, Bouletten, Eier, Gemüse, Birnenlimonade und sogar Sekt für lächerliche 11 US$ zusammen! Während wir essen, kracht vereinzelt etwas von außen gegen die Waggonwand. Wir schauen fragend hoch, und der Herr von eben erklärt uns, jemand bewerfe den Zug mit Steinen und damit keiner durchs Fenster hereinfliege, seien die Rollos heruntergezogen. Jeder Zug in Sibirien führt deshalb einige Ersatzscheiben mit. Kaputte Fenster sind uns tatsächlich schon an anderen Zügen aufgefallen, und nun befürchten wir, daß ein Stein in unser Abteil gesegelt kommen könnte. Ein sehr schöner Sonnenuntergang, dem wir gerade entgegenrollen, bringt uns aber schnell wieder von diesem Gedanken ab. Wir veranstalten in einem Abteil noch eine kleine Fete, bevor wir müde einschlafen.