Müde schauen wir aus dem Fenster – und sind gleich hellwach. Was passiert denn da? Der Zug hält zwischen zwei Grenzen. Eine ausgedehnte Grünfläche trennt uns vom weiter entfernten Wald, ein Mischwald, so weit wir sehen können. Vier junge Männer rollen verbeulte Fässer mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit aus dem Wald. Sie zapfen 8 Fässer Diesel aus der Lok ab. Ihre verschreckten Blicke treffen unsere Kameras.
Plötzlich gehen sie gleichzeitig in die Hocke und verstecken sich im langen Gras. Ein Zug fährt an uns vorbei. Kaum ist er weg, geht die Arbeit weiter: ein leichtes Heranrollen der leeren Fässer und ein mühsames Zurückwälzen der vollen Fässer über die Wiese in den Wald. Nur der Lokführer, der den Zug stoppte, scheint in das Geschehen im Niemandsland eingeweiht zu sein. Mehr erfahren wir nicht. Außer den geheimnisvollen Männern mit den Fässern ist die Gegend menschenleer. Rechts und links von uns gibt es nur Wiesen und Wälder. Wir befinden uns in einem Transitland nur wenige Kilometer vor Litauen – die Länder des Baltikum liegen vor uns: Litauen, Lettland, Estland. Wir hoffen, dass wir sie mit dem übrig gebliebenen Treibstoff erreichen.
 
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Die Landschaft ist heute in Sonntagskleidung gehüllt: Mich blenden die weißen Birkenstämme, die in der Sonne silbrig leuchten. Das schwarz-weiße Fell einer Kuh am Bahndamm glänzt mit den Blättern um die Wette. Der Mischwald zieht an uns vorbei und wird bald wieder von bunten Felderstreifen abgelöst. Hie und da winkt uns eine Vogelscheuche entgegen. Eine Frau schiebt ihr Fahrrad, auf dem eine blecherne Milchkanne meiner Kindheit hängt. Wir fahren an großen, kunstvoll angeordneten runden Holzstößen vorbei, die an afrikanische Hütten erinnern. Vom Zug aus sieht man im Dorf gebrauchte Kleidungsstücke, die zum Verkauf angeboten werden, am Boden liegen. Es sind nur wenige Ladas unterwegs…stattdessen gibt es mehr Pferdefuhrwerke, Kühe, Ziegen und Gänse, die durchaus auch einmal holprige Wege oder Straßen mit Schlaglöchern zu ihrem Revier erklären und die man erst auffordern muss, die Fahrbahn für Autos frei zu machen.
 
12:00 Mittag: Grenze Litauen – Lettland. Sumpf, Seen und Fischer prägen das Bild der vorbeifahrenden weiträumigen Landschaft. Noch beschaulicher als zuvor holpert der Zug durch eine scheinbar noch wenig berührte Landschaft. In hohem Gras stehende kleine Holzhäuser sehen aus wie im Märchenbuch.
 
Durch Lettland führt der weltberühmte „Europa-Radweg“. Manche von uns würden jetzt lieber draußen in die Pedale treten, denn das Land mit seinen weit verzweigten verkehrsarmen Landstraßen und den sonnenbeschienenen Wäldern strahlt eine Ruhe aus wie wir sie uns in unserem hektischen Alltag nur wünschen können. Bei genauerem Hinsehen kann man jedoch bald erkennen, dass die Wege und Straßen teilweise in sehr schlechtem Zustand sind, aber insgesamt steigt hier sichtbar der Lebensstandard wieder langsam an.