Durch einen schmalen Torbogen betraten wir den berühmten, wohl wichtigsten Tempel zur Verehrung der Göttin Kali. In dem Menschengewühl kam uns ein kleiner, alter Mann entgegen, der vorgab, Priester zu sein. Voller Eifer, freundlich lächelnd und mit dem typisch indischen Kopfwackeln erzählte er uns von den Göttinnen Kali, Rama und einigen anderen. In ihren reichlich mit bunten Blumen geschmückten kleinen Tempeln wurden sie hier verehrt. Tausende von Gläubigen drängen sich täglich im und um den Tempel. Manche wollen damit ein Gelübde erfüllen, andere bitten um Schutz bei einer langen Reise, und einige suchen Heilung von ihren Krankheiten. Kali, die Göttin des Zorns und der Mütterlichkeit, oft als mehrarmige Schreckensfigur mit blutrünstiger Zunge dargestellt, ist die schwarze Schutzpatronin der Stadt. Der Aspekt des Tods und der Zerstörung beruhen auf dem Glauben, dass ohne Zerstörung nichts Neues entstehen kann, und dass Leben und Tod eine untrennbare Einheit bilden.
 
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Wir verließen den Tempel und gingen an Andenken-Lädchen vorbei zum Seitenarm des Flusses Hooghly. In der Abenddämmerung stiegen wir die Steinstufen hinunter, dem Ghat, zu der stinkenden, schmutzigen Brühe. Die Leute waren auf dem Nachhauseweg. Als Brücke dienten drei aneinander gebundene Boote. Schwach beleuchteten vom anderen Ufer her einige Lichter den Weg.
Der Tod und der Umgang mit den Toten und Sterbenden ist hier etwas Alltägliches. Unzählige Hindus strömen täglich zu den verschiedenen Ghats von Kalkutta, um sich von ihren Sünden reinzuwaschen. Hierher bringen sie ihre Toten, damit sie direkt am Ufer des Flusses Hooghly, der in den heiligen Fluss Ganges fließt, in einer religiösen Zeremonie verbrannt werden können. Nur als rein geltende Menschen, wie Priester und Kinder, werden unverbrannt dem Fluss übergeben. Unvorstellbar für uns, dass in diesem Wasser, wo auch sämtliche Abwässer hineingelangen, die Körperreinigung vorgenommen wird.
Die Religion ist ein fester Bestandteil des täglichen Lebens in Indien. Der Glaube an die religiöse Reinheit des Wassers lässt die Menschen über allen weltlichen Schmutz hinwegsehen. Ihr Glaube ist so stark, dass er ihnen auch dabei hilft, ihre Armut und verzweifelten Lebensumstände zu ertragen. Das positive Lebensgefühl der Menschen in der „Stadt der Freude“ ist mit unserer westlichen Mentalität nicht nachvollziehbar.