Inzwischen scheint die Sonne wieder als wir in die Plattenbauten-Vorstädte von Tallinn kommen, Estlands Hauptstadt mit 420.000 Einwohnern. Hier gibt es viele Neubauten, ein großes Industriegebiet mit modernen Gebäuden. Aber es gibt auch noch viele leerstehende, verfallene Häuser und Ruinen, an denen der Putz abblättert. Dennoch spürt man allenthalben das Aufstreben der Stadt und die Öffnung nach Westen. Unser Ziel ist die schön restaurierte Altstadt von Tallinn, deren Silhouette wir bereits vom Meer her sahen von der Finnjet aus. Die Menschen hier scheinen mir blaß, sind aber modern und gut gekleidet. An unserem “Grand Hotel Tallinn” holen wir Eduard, unseren hiesigen Stadtführer ab. Er ist Historiker und will uns seine Stadt und deren Geschichte nahebringen. Wir sind nach fast 10 Stunden inklusive Grenzwarterei doch ziemlich geschafft, aber die Stadtführung wollen wir doch machen. So fahren wir zuerst zum Katharinental, wie das Schloß der russischen Romanows genannt wird, und dessen Gartenanlage gerade wieder neu angelegt wird. In Tallinn gibt es eine 8 km lange Strandpromenade an der Ostseeküste entlang, und Eduard meint, jeder, der nicht diese 8 km lange Promenade abgelaufen hat, war nicht in Tallinn. Leider ballen sich dicke, dunkle Wolken zusammen, dann beginnt es zu donnern. Meine beiden Schirme befinden sich sinnigerweise im Koffer.

 

Eduard erzählt uns, daß die durchschnittliche Rente in Estland bei 150 Euro liegt und daß für Miete etwa 80 - 100 Euro aufzubringen sind, der Rest muß zum Leben reichen. Das durchschnittliche Einkommen der Esten liegt bei 470 Euro. Die Esten wollen zu 60 % nicht in die EU, denn sie haben Angst um Arbeitsplätze und vor der Euro-Teuerung. Estland ist arm, aber reicher als Russland, und es will seine Freiheit behalten. Nun, wir werden sehen, was sich 2004 tut.

 

Inzwischen regnet es leider recht stark, als wir an der gut erhaltenen Stadtmauer mit den dicken Türmen vorbeifahren. Uns wird die “dicke Margarete” ebenso wie der “dünne Erich” und der “lange Hermann” erklärt (alles Türme) und auch der Domberg, aber da es draußen inzwischen fast finster ist und durch die nassen Scheiben nicht viel zu sehen ist, beschliessen wir, zum Hotel zu fahren. Wer will, kann trotz Regen zu Fuß an der Stadtführung teilnehmen, die anderen können ins Hotel. Dort gibt es eine wunderbare Bäckerei mit feinsten Torten und Backwaren. Da ich schon längst Hunger habe, versuche ich hier, zwei Teilchen mit Euro zu bezahlen, das nimmt man dort aber nicht. Die Eurocard funktioniert hier auch nicht seltsamerweise, und an der Reception kann man nur den ganzen Geldschein wechseln, nicht aber nur einen Teil. Da wir morgen aber schon wieder weiterfahren nach Lettland, brauche ich gar kein estnisches Geld, und so verlasse ich halt die Bäckerei unverrichteter Dinge und warte auf das späte Abendessen. Das Gewitter ist sehr hartnäckig, und der Regen will einfach nicht aufhören.

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Das Hotel ist sehr gut, modern und komfortabel, der Service gut und freundlich. Hier lächeln die Menschen wieder. Und auch das Abendessen war phantastisch, sowohl für die Augen als auch für den Bauch. Um 21.30 Uhr schien die Sonne wieder, und so laufe ich mit einem Stadtplan gewappnet in die Altstadt, wo ich mich prima zurechtfinde und bis Mitternacht durch diese herrlichen mittelalterlichen Gässchen laufe, vom Domberg die prächtige Aussicht über die roten Dächer und den Hafen auf die Ostsee geniesse und von der wunderschönen Alexander-Newski-Kathedrale mit den 5 Kuppeltürmen Fotos mache. Diese altrussischen Kirchen faszinieren mich immer wieder. Die Altstadt von Tallinn ist die schönste, die ich bisher sah. Gerne wäre ich in dieser Stadt noch länger geblieben, zumal ich gerne einen freien Tag zum bummeln, flanieren, geniessen und ausruhen gehabt hätte. Die vielen kleinen Bistros und Straßencafés luden zum Verweilen ein, urige kleine Kneipen wollten besucht werden, und viele junge und alte Leute flanierten in friedlich-entspannter Stimmung durch die nächtliche Altstadt, die nun angestrahlt wurde. Was für ein besonderer Zauber lag über dieser ungewöhnlichen Stadt. Hierhin möchte ich sehr gerne zurückkommen. Ich war sehr dankbar, daß der Regen doch noch rechtzeitig aufgehört hatte, sonst hätte ich nie erfahren, was für ein Kleinod dieses Tallinn ist.

 

Todmüde lege ich mich dann in mein Luxusbett und überdenke dann noch einmal diesen Tag voller Gegensätze: Morgens noch St. Petersburg mit seiner Pracht und abends die schnuckelige Altstadt von Tallinn! Es ist eine ganz andere Welt.

 

Am nächsten Morgen bin ich noch vor dem Frühstück zur Burg hochgelaufen bei strahlendem Sonnenschein. Danach geniesse ich ein herrliches Frühstücksbüffet mit feinen luftigen Hefeteilchen. Dann geht es wieder rein in den Bus und wir fahren ab in Richtung Riga, der Hauptstadt Lettlands, die 307 km entfernt liegt. Brigitte teilt uns den Spruch des Tages mit: “Nicht, wer wenig hat, sonder wer viel wünscht, ist wirklich arm.” Wie wahr! Heute fahren wir über die Via Baltica, einer modernen, guten Straße, di von der EU gefördert wurde und quer durch die baltischen Staaten verläuft. Die Landschaft hier ist platt wie eine Flunder und liegt durchnittlich nur 50 Meter über dem Meeresspiegel. Weite blühende Wiesenlandschaften mit herrlichen Blumen wechseln sich ab mit Wald. Vereinzelte Gehöfte sind zu sehen, ansonsten ist das Land sehr dünn besiedelt. Die Nationalblume des Landes ist die Kornblume, die wir in Massen in den Wiesen blühen sehen. Das Nationaltier ist die Rauchschwalbe. Aber es gibt auch viele Störche hier. Nach 120 km kommen wir in Pärnu an der Ostsee an. Hier gibt es kilometerlange, feine Sandstrände. Pärnu mit 50.000 Einwohnern ist eine Kurstadt, weil der hiesige Heilschlamm Wunder wirken soll. Die Sonne knallt wieder erbarmungslos vom Himmel, als wir ans Meer laufen, wo es keinerlei Schatten gibt. Der Strand ist so flach, daß man einen Kilometer weit ins Meer hinauslaufen kann. Das ist ein Paradies für Kinder, und ein Galopp an diesem Strand entlang ist bestimmt auch ein Hochgenuß. Pärnu ist eine gepflegte kleine Stadt mit vielen kleinen Gärten.