In der Nacht müssen wir eine stark rußende Lok gehabt haben (sie werden an den größeren Bahnhöfen immer ausgetauscht), denn morgens ist das halbe Abteil mit schwarzen Partikeln eingepudert, die durch Ritzen am Fenster eingedrungen sind. Greg wacht sogar mit einem völlig schwarzen Gesicht auf einem ebensolchen Kopfkissen auf. Jetzt genieße ich den Komfort einer heißen Dusche erst richtig. Damit das Wasser abfließen kann, muß man allerdings den Stopfen aus dem Boden entfernen, wodurch von unten wie aus einer Düse eiskalter Wind an einem hochpfeift. Das erste Wasser gefriert sofort auf dem Boden und bildet eine rutschige Eisschicht. Mit glitschigem Fußboden hat man ebenfalls auf der Toilette zu kämpfen. Morgens knistert und dampft die Metallschüssel, wenn sie bei der ersten Benutzung auftaut, und man muß beim Spülen ständig achtgeben, daß das Papier durch den Fahrtwind nicht hereingeweht wird und einem um die Ohren flattert, denn die Toilette hat keinen Deckel.
Heute ist es bewölkt, Birken und Nadelbäume dominieren die hügelige Landschaft. Wir überqueren den Jennisej und hinter Krasnojarsk haben wir die Hälfte der Strecke zurückgelegt. Auf der Südseite der Schienen zeigen Kilometersteine die aktuelle Entfernung bis Moskau an, so daß wir immer wissen wie weit es noch ist. Vor Mariinsk beginnt es, dicke Schneeflocken zu schneien, teilweise wird es so nebelig, daß die Sicht keine zehn Meter mehr beträgt. Als wir Taiga erreichen, ist alles weiß. 70 km nördlich von hier liegt Tomsk. Daß sich in dem dortigen Atomreaktor in drei Tagen ein Störfall ereignen und sich im Umkreis von 200 km eine radioaktive Wolke ausbreiten wird, werden wir erst in Deutschland erfahren. Auch von den momentan sehr instabilen politischen Verhältnissen - in Moskau droht ein Putsch, bei dem Jelzin entmachtet werden soll - ahnen wir nichts. Stattdessen bewerfen wir uns auf dem Bahnsteig mit Schneebällen, putzen die Abteilfenster von außen, um besser Photographieren zu können, und versorgen uns an kleinen Kiosks mit Brot und Fischkonserven.
Hinterher wärmen uns alle bei den beiden Emmas im Abteil mit Wodka, Wein, Bier, Sekt und Knabberzeug auf. Es ist sehr gemütlich, während draußen eine verschneite Landschaft wie bei ‘Dr. Schiwago’ vorbeizieht.
Mittlerweile ist es dunkel geworden, und der Zug stoppt wieder. Grüne Neonbuchstaben verraten uns, daß wir in Novosibirsk angekommen sind. Eine Anzeige vermeldet -8° C, die aber durch den eisigen Wind deutlich unterboten werden. Das bekommen unsere Finger zu spüren, die uns beim Photographieren mit einem Metallstativ fast abfallen und erst nach einer knappen halben Stunde wieder Gefühl in den Spitzen entwickeln. Mit einer Portion heißer Suppe stellen wir uns wieder völlig her. Barabinsk, Omsk und Nazevajewskaja heißen ein paar der Städte, die wir nachts durchfahren.
Am Morgen ist die Landschaft unverändert platt und weiß, nur die Bäume sind bis dicht an die Gleise gerückt. Wenn hier im Sommer alles grün ist, dürfte man recht wenig sehen. Außerdem wird die Sicht durch die nun sehr häufigen langen Güterzüge eingeschränkt. Der Abschnitt zwischen Novosibirsk und dem Ural gilt als eine der weltweit meistbefahrensten Strecken. Alle paar Minuten kommt uns hier ein Zug entgegen, beladen mit Eisenerz oder Kohle, von deren Gesamtvorkommen bereits ein Viertel auf russischem Gebiet liegt. Entsprechend häufiger sehen wir nun auch große Industrien, die dichte Abgaswolken in die Luft pusten.
In Tjumen haben wir einen sehr langen Aufenthalt. Während der gesamten zwei Stunden steht eine junge Frau im Minirock auf dem Bahnsteig und präsentiert trotz der Kälte ihre Mode. Ebenso läuft ein älterer Herr den Zug auf und ab und schwenkt stolz seine bunte Plastiktüte von einem deutschen Supermarkt. Artikel dieser Art scheinen in Rußland immer noch sehr begehrt zu sein.