Nach einer Weile tauchte Christine auf, die mich von weitem beobachtet hatte und dachte, dass ich irgendwas Tolles entdeckt haben musste, wenn ich so lange fast am gleichen Fleck bleibe. Sie war dann ebenso fasziniert von dem Ameisenbären und setzte die Beobachtung fort, während ich langsam weiterging. Nach ein paar Minuten kam mir die Idee, dass ein Foto von mir mit Ameisenbär eigentlich ein schönes Titelbild für mein zweites Reisebuch sein könnte und lief zu Christine zurück. Dabei sah ich von weitem einen weiteren, noch grösseren Ameisenbären, direkt auf uns zukommen. Das war dann heute der Bär Nr. 4.
Christine machte das Foto auch, aber leider kontrollierte ich nicht gleich, ob es auch was geworden ist. Ich hätte eine andere Kameraeinstellung wählen müssen. So ist der Ameisenbär scharf, ich aber nicht. Na gut, halb unscharfe Fotos sind ja zumindest in der heutigen Industriefotografie schick. So gesehen kann das Foto als gelungen betrachtet werden. Und mir gelang dann auch noch ein Foto, auf dem beide Ameisenbären zu sehen sind, und das ist sehr ungewöhnlich, denn Ameisenbären sind Einzelgänger und gehen sich aus dem Weg. Diese beiden kamen sich etwa auf 20 Meter nahe, ehe sie sich bemerkten. Und dieser grosse Ameisenbär war so damit beschäftigt, sich von dem zweiten zu entfernen, dass er direkt auf uns zukam und uns nicht bemerkte.
Ich hätte ihn anfassen können, aber dann fiel mir ein, dass Ulli uns davor gewarnt hatte, denn Ameisenbären haben mächtige lange Krallen an ihren Pfoten, mit denen sie die Ameisenhaufen und Termitenhügel aufbrechen. Wenn sie sich bedroht fühlen, „boxen" sie damit und können einen schwer verletzen. Ich liess ihn ungestreichelt ziehen.
Gemeinsam liefen wir dann noch zu der uns schon vertrauten Lagune, durch deren Wasser wir geritten waren und hielten Ausschau nach Wasserschweinen, deren Kot überall herumlag. Aber leider liess sich keines blicken. Alleine ging ich weiter, und als ich aus dem Wäldchen herauskam, stand keine 10 Meter von mir entfernt ein schöner grosser Jabiru, der sich bei meinem Anblick gleich in die Lüfte schwang.
Nach drei Stunden kam ich begeistert von meiner „Privatsafari" zurück. Kaffee, Kuchen und eine Verschnaufpause kamen mir gerade recht. Und dann lief doch tatsächlich ganz gemächlich ein grosser Ameisenbär direkt vor der Terrasse über das Gelände auf die nächste Weide zu, stieg über den Zaun und trollte sich langsam. Das war Bär Nr. 5 heute und direkt vor der Haustür. Dieses Zusammentreffen von Wild- und Haustieren in allernächster Nähe hat mich immer wieder neu begeistert.
Um 17.00 Uhr starteten wir mit zwei Booten den Rio Aquidauana flussaufwärts. Durch den Regen der letzten Tage war das Wasser und damit die Strömung stark gestiegen. Es dämmerte bereits, und die wenigen Vögel, die wir noch sahen, waren daher alle grau. Bald war es dunkel, als wir durch einen schmalen Seitenarm in eine Lagune fuhren. Der Mond stand wie eine kleine Sichel quer am Himmel, und nachdem der Motor abgeschaltet war, konnten wir ein eigenartiges Phänomen hören, nämlich die „knurrenden" Fische unter dem Boot. Es hört sich fast so an, als würde eine Katze schnurren. Bis heute weiss keiner, warum die Fische unter dem Boot diese eigenartigen Laute von sich geben.
Viele Frösche quaken jetzt in allen Varianten. Eine Ziegenmelkerart (Nachtvogel) lässt seinen eigenartigen Schrei ertönen, Fledermäuse sausen über unsere Köpfe übers Wasser, und Glühwürmchen torkeln durch die Bäume und Sträucher. Kaimanaugen glühen auf und Fische springen. Es ist eine eigenartige, geheimnisvolle und auch etwas unheimliche Stimmung.
Silvio, unser Allroundtalent, hat mit dem Suchscheinwerfer Katzenaugen entdeckt und ahmt die Stimmen von Jaguar und Ozelot meisterhaft nach, denn eines dieser Tiere war hier am Ufer. Aber trotz perfekter Imitation liess sich keines von beiden blicken. Das hätte mich auch sehr gewundert. Die ganze Szenerie hatte etwas Gespenstisches, und da ich die Dunkelheit nicht mag, fühlte ich mich ziemlich unbehaglich und war froh, als wir nach drei Stunden zurück waren.
Zum Abendessen gab es heute für uns etwas besonderes, nämlich Churrasco, das Nationalessen der Brasilianer, was letztlich nichts anderes ist als Grillfleisch mit Beilagen. Hier stand ein gemauerter Grill, über dem stand geschrieben: „Fim do boi", also „das Ende des Stiers"! Und in der Tat steckten auf langen Spiessen dicke feine Bratenstücke und Bratwurst und warteten darauf, von uns verspeist zu werden. Silvio, der doch die ganze Zeit das Boot gelenkt und Stimmverrenkungen in Sachen Jaguar gemacht hatte, stand nun am Grill und schnitt uns ganz professionell mundgerechte Stücke ab. Die ganze Familie und auch noch andere brasilianische Gäste machten mit, und es war ein richtig schönes und leckeres Essen und für uns das letzte Abendessen im Pantanal, denn morgen nach dem Mittagessen müssen wir diese Oase leider verlassen und weiterreisen. Hier wäre ich gerne noch eine ganze Weile geblieben, zumal mir hier alles von Tag zu Tag vertrauter wurde. Ich hätte auch gerne meine Reiterei wieder intensiviert und den Vaqueiros bei der Arbeit geholfen.
Am nächsten Morgen werden wir um 4.45 Uhr geweckt und um 5.00 Uhr laufen wir schon los zum Fluss. Es ist jetzt schon warm und fast windstill. Ein kaum sichtbarer Pfad führt immer durch den dichten Wildwuchs des Galeriewaldes. Silvio haut mit seinem starken Messer immer wieder Ranken und Zweige ab, damit wir einigermassen durch diese Wildnis kommen. Manchmal müssen wir uns gebückt durch Äste und Lianen zwängen. Dann sehen wir die Sonne strahlend aufgehen und hören das Konzert von zwei Brüllaffenfamilien, die sich schon aller Frühe Schimpfkanonaden zurufen.
Den eigentlich vorgesehenen Pfad direkt am Ufer entlang können wir nicht mehr gehen, weil er bereits unter Wasser steht und müssen uns einen anderen Weg suchen. Wir sind die letzte Gruppe dieses Jahr, die hier gehen kann, denn in Kürze wird hier alles 2 – 3 Meter hoch und monatelang unter Wasser stehen. Erst im nächsten Juli ist der Wald wieder begehbar.
Im dicht wuchernden Wald sehen wir nur wenige Tiere, meist einzelne Vögel und ein paar Kapuzineraffen. Bernd hat sich einmal unachtsamerweise an einem sogenannten „Ameisenbaum" festgehalten und dies sofort schmerzhaft bereut. Denn dieser Baum mit sehr schönen fünffingrigen Blättern wird von jeweils einer Ameisenkolonie bewohnt und gegen Tod und Teufel aggressiv verteidigt. Kein Tier wagt sich an diesen Baum heran, weshalb die schönen Blätter immer makellos und unversehrt sind.