So wurde ein Kalb nach dem anderen behandelt, bei manchen ging es flott, bei manchen war es eine grössere Prozedur. Die Mutterkühe sind ganz schön mutig und weichen nicht von der Seite. Wir erfahren viel über die Zucht der Rinder und den Ablauf der Viehwirtschaft auf der Fazenda. Es ist harte Arbeit, aber die Männer wollen kein anderes Leben, und die Rinder leben hier frei und natürlich. Sie haben ihre Stiere und bekommen ihre Kälbchen ohne Hilfe, sind Tag und Nacht draussen und frei. Auf jeder grossen Weide befinden sich kleinere Wäldchen, die bei Wind und Wetter Schutz bieten. 1/3 der Kälber wird zur Nachzucht behalten, 2/3 werden verkauft. Von soviel Freiheit können unsere meist eingesperrten Rinder nur träumen.
Freiheit bedeutet aber auch Risiko, und es kommt immer wieder mal vor, dass ein Tier von einer Schlange gebissen wird und stirbt. Hier auf der Farm gibt es vor allem Klapperschlangen und Lanzenottern und seltener auch Korallenschlangen. Uns ist aber auf der ganzen Reise keine einzige Schlange begegnet, dabei hätte ich so gerne eine Anaconda hautnah gesehen.
Wir reiten in einem Bogen durch die friedliche Savannenlandschaft und beobachten vorbei fliegende Riesentukane, die es sehr häufig gibt. Auch zwei der seltenen rosa Löffler fliegen über uns und viele andere Vögel. Es nieselt ein wenig, und dieses Wetter erinnert doch sehr an zu Hause. Hier ist das jetzt im Oktober völlig ungewöhnlich, denn an sich ist es hier immer so heiss wie in den letzten Tagen. Wir sind aber froh, mal nicht so gelähmt vor Hitze zu sein.
Zurück auf der Fazenda kommt der schöne gefleckte Hengst angelaufen, was uns verwunderte. Grund war eine der Stuten, die wir dabeihatten und die sich seine Bemühungen offensichtlich sehr gerne gefallen liess. Wo gibt es das sonst, dass ein Hengst frei laufen und einfach so für Nachwuchs sorgen kann? Der Durchgang von der nächsten Weide zum Fazendagebäude ist immer offen, und die Pferde, Kühe und Schafe kommen und gehen wie sie wollen. Man hält auf dieser Fazenda keine Hunde wie sonst üblich, um die Wildtiere nicht zu vertreiben, die die Gäste natürlich sehen wollen.
Wir sind inzwischen so begeistert von den Reittouren, dass wir uns auf den grossen Ausritt morgen schon sehr freuen. Wir leben auf dieser Fazenda wie auf einer Insel. Die nächste Stadt und Einkaufsmöglichkeit mit dem üblichen Autoverkehr und Lärm ist ja 65 km entfernt. Hier gibt es „nur" die vielen verschiedenen Geräusche der Natur, allen voran die der zahllosen Vögel. Es ist friedlich, natürlich und einfach, ohne Stress und jegliche Hektik. Einfach – einfach schön! Wir werden bestens bekocht und versorgt und betreut, und ich mache mir so meine Gedanken über unser konsumorientiertes, beengtes und reglementiertes und von viel Lärm begleitetes Leben in Deutschland. Hier kann man völlig loslassen, und ich habe keine Ahnung, welches Datum heute ist. Es interessiert genau so wenig wie die Nachrichten oder was sonst gerade passiert in der Welt „da draussen".
Während ich die Notizen für diesen Bericht schreibe, sitze ich auf der grossen überdachten Terrasse mit Blick auf die Weiden mit etwa 20 Pferden darauf, im Hintergrund viele Rinder und überall fliegen und lärmen Vögel. Vor allem die Chacalacas und die grossen grauen Ibisse und die Papageien machen ordentlich Krach und sorgen für Leben hier. Überhaupt sieht man hier beim Gebäude mühelos die meisten Vögel, während wir diese auf unseren Pirschgängen immer intensiv suchen müssen. Die angeblich so grossen Kolonien von Reihern aller Art suchten wir bisher vergebens. Auch die Wasserschweine machen sich sehr rar und sind meist nur noch ganz kurz beim Wegrennen zu sehen. Vielleicht sind sie mehr im nördlichen Pantanal zu finden.