Unter Katarakten
Als wir am nächsten Morgen aufwachen, erwartet uns nach Auflösung der Frühnebelfelder ein strahlend schöner Tag mit bestem Photowetter. Die Luft ist einzigartig klar, und mit 24 °C herrschen auch für Mitteleuropäer erträgliche Temperaturen. Im kühlen Luftzug unseres offenen Fahrzeugs werden wir an die Katarakte des Iguaçu-Flusses herangebracht, wo dieser auf einer Länge von 4 km über eine Höhe von bis zu 73 Metern herabstürzt. Iguaçu liegt 225 m über dem Meeresspiegel, auf dem 29ten südlichen Breitengrad. Die Temperaturunterschiede können hier extrem sein. So wurden in den Sommermonaten bereits Temperaturen von 49 °C im Schatten gemessen, so daß man auf der Kühlerhaube einer schwarzlackierten Limousine in der Sonne Spiegeleier braten konnte; im Winter hingegen treten regelmäßig Minusgrade auf. Das kälteste Jahr, an das Einheimische sich erinnern können, war 1945, wo elf Grad unter Null erreicht wurden. Wir befinden uns hier in der Vegetationszone des subtropischen Regenwaldes, der am Boden sehr dicht ist. Selbst Araukarien, die normalerweise auf Höhen unter 500 m nicht vorkommen, gehören zum festen Baumbestand; dank einer Elsternart, die für die Verbreitung der Samen sorgt, ist dies möglich. In den Wäldern findet man Jaguar, Ozelot und Nasenbär. Letzterer bringt eine Beißkraft von zwei Tonnen auf für alles, was ihm in den Mund gelegt wird. Daher wird davor gewarnt, diese Tiere, die es hier sehr zahlreich gibt, zu füttern oder zu streicheln.
Besonders reich an Arten ist die Insektenwelt. Riesige und überaus farbenprächtige, nur hier vorkommende Schmetterlinge erfreuen das Auge des Besuchers. Es ist aber nicht möglich, die zahlreichen Schmetterlingsarten alle zu kennen und die vielfältigen Pflanzen einzuordnen, zu zahlreich sind diese, als daß ein gewöhnlich Sterblicher sie alle identifizieren könnte. Ist es doch im allgemeinen beklagenswert, wenn jemand, nur weil er die Namen nicht kennt, nicht angeben kann, was er gesehen hat und um welche Gattungen es sich handelt, und dies zeigt, wie wenig er sich eigentlich dafür interessiert. Darum sollte sich, wer eine Reise tut, schon vor Antritt derselben mit den geographischen, zoologischen und botanischen Gegebenheiten vertraut machen, er sollte die Namen und den Verlauf der Flüsse kennen, besondere geologische Sehenswürdigkeiten nach den Gesteinen, die dort vorkommen, beurteilen können und um ihre Entstehung wissen. Kulturen, die ausgestorben sind, sollten zeitlich eingeordnet werden können, sonst verhält es sich wie bei jemandem, der zwar nicht blind und taub ist, aber dennoch nicht sieht und nicht hört und wie ein Tor allezeit auf Erden wandelt.
Obwohl mir die argentinische Seite der Wasserfälle nicht neu ist, ziehe ich es vor, sie ein zweites Mal zu besichtigen, anstatt auf dem Campingplatz auszuharren und auf die anderen zu warten. Die Besichtigung beschließt man üblicherweise mit einer Fahrt zum Dreiländereck Argentinien - Brasilien - Paraguay. Dieses liegt genau an der Stelle, wo der Río Iguaçu in den Paraná mündet. Letzterer entsteht am Zusammenfluß von Río Grande und Río Paranaibo und ist nach dem Amazonas der wasserreichste aller Ströme Südamerikas. Nach dem Zusammenfluß mit dem Río Uruguay heißt er Río de la Plata, der wiederum kein eigentlicher Strom ist, sondern ein Mündungstrichter bzw. eine Meeresbucht; an ihr liegt Montevideo und auf der gegenüberliegenden Seite Buenos Aires. An der Mündung des Río Paraguay in den Río Paraná liegen die beiden Städte Resistencia und Corrientes. Der Río Paraguay aber entspringt im Pantanal und nimmt bei Asunción den Río Pilcomayo auf, der Grenzfluß ist zwischen Argentinien und Paraguay. Als weiteren wasserreichen Strom nimmt der Río Uruguay kurz vor seiner Mündung in den Río de la Plata noch den Río Negro auf.
Am Papageienfluß
An einem Mittwochmorgen verlassen wir Foz do Iguaçu und überqueren auf der "Freundschaftsbrücke" den Paraná, den Papageienfluß, bei Ciudad del Este, der Stadt des Ostens, nach Hongkong und Miami der drittgrößte Warenumschlagplatz der Welt. Bislang ist es der paraguayanischen Regierung nicht gelungen, den illegalen Drogenhandel, die Waffen- und Autoschiebereien, die Geldwäsche und die von hier ausgehenden terroristischen Aktivitäten islamischer Gruppen zu unterbinden. 80 % der Waren gehen, ohne daß Zoll entrichtet wird, über die Grenze. Die Beamten, die hier ihren Dienst tun, sind mehrheitlich korrupt, bei ihrem niedrigen Gehalt für viele durchaus verständlich.
Über eine Brücke, von der aus sich bereits ein Blick auf die Silhouette von Asunción auftut, überqueren wir die gewaltigen Wassermassen des Río Paraguay. Hier ist es schlagartig aus mit den Lateritböden, denn ab dort betreten wir graue Chacoerde. Der Chaco ist kaum besiedelt, obwohl er die ertragreichsten Böden der Erde hat, die aber schwer zu bewirtschaften sind, das Grundwasser ist nämlich zu salzhaltig. Der Ombú- oder Teufelsbaum (phytolacca dioica), der hier gedeiht, gehört zur Familie der Kermesbeerengewächse. Kein Tier würde sich auch nur in seinen Schatten begeben, zumal er voller Giftstoffe ist.
Unser heutiger Camping-Platz liegt im Botanischen Garten von Asunción, einem Mückenparadies, einer schwül-heißen Hölle, in der man in der Nacht nur schwer Schlaf findet. Seit drei Tagen konnte ich mich nun schon nicht mehr rasieren, und die sanitären Verhältnisse scheinen dies auch heute nicht zuzulassen. Besonders beschämend finde ich das Verhalten einer kleinen Gruppe junger Deutscher, die ihren Übernachtungsplatz als Müllhaufen hinterlassen. Als sie dann noch denken, sie müßten sich vor ihrer nächtlichen Abreise mit dröhnender Musik aus dem Kofferradio verabschieden, gehe ich kurz entschlossen hin und drehe ihnen das Radio aus. Dies führt anfangs zwar zu lebhaften Protesten, aber am Ende kann ich mich durchsetzen. – Nachts werden wir durch das Gebrüll der Löwen, die in den benachbarten Käfigen eingesperrt sind, immer wieder aus dem Schlaf gerissen. Es klingt – wenn man gerade aus einem Albtraum erwacht –, als würden ihnen in der Arena Christen zum Fraß vorgeworfen.