Wir verlassen nun die Provinz Chaco und reisen nach Santiago del Estero ein. Längs der Straße sitzen immer wieder Rabengeier, so genannt nach dem sie kennzeichnenden schwarzen Kopf. Auch sind immer häufiger Feigenkakteen in die Landschaft eingestreut. Die Früchte der Feigenkakteen nennt man hierzulande Tunas, sie sind eßbar. –
    Niemals würde in Argentinien jemand auf die Idee kommen, daß ihn der Staat durchfüttern würde. Den Begriff des Sozialstaates kennt man in Lateinamerika nicht. Ein Lehrer verdient in der Provinz Santiago del Estero weniger als 234 US$ im Monat, wobei es an der Regel ist, die Gehälter mit mehrwöchiger Verspätung auszubezahlen. Der Peso ist im Verhältnis 1:1 an den Dollar gekoppelt. Ein Handwerker verdient zwischen 600 und 800 Pesos, ein Polizist 400-500 Pesos. Verkäufer leben von Provisionen und bekommen in der Regel überhaupt kein Gehalt. Der Staat nimmt den Menschen nichts, aber dafür gibt er ihnen auch nichts. Die Familie ist in Lateinamerika noch intakt, sie ist das einzige soziale Netz, das es gibt. Junge Ehepaare leben in der Regel bei den Eltern, Altersheime kennt man nicht. Fast alle leben jedoch in Wohneigentum. 
    Bei Quimili nehmen wir nicht den direkten Weg nach Santiago del Estero, da uns die Straße zu schlecht ist, sondern biegen Richtung Süden ab. Es muß hier gewaltig geregnet haben in den vergangenen Tagen, da richtige Seen entstanden sind, wo sich die Kuhreiher und Kormorane wohlfühlen, die diese Feuchtgebiete zahlreich bevölkern. Bei Cnia. Dora erreichen wir die Straße Nr. 34, die nach Rosario hinabführt. Über den Río Dulce gelangen wir schließlich nach Santiago del Estero. 
    Die Stadt wurde 1553 durch Capitan Francisco de Aguirre gegründet und ist somit die älteste argentinische Ansiedlung. Im Sommer kann es hier unerträglich heiß werden, bis zu 50 Grad. Aus der Kolonialzeit hat sich kaum noch etwas erhalten. Überhaupt macht die Stadt einen heruntergekommenen und verwahrlosten Eindruck. Die Dominikanerkirche ist das einzige, was es zu besichtigen gibt. Sie ist im Innern schlicht, weist nur wenige Stukkaturen auf und macht äußerlich den Eindruck einer Wehrkirche. Die Orientierung in der Stadt fällt schwer, da die Straßen schachbrettartig angelegt sind und ein Haus dem andern gleicht. Die Bewohner machen ebenfalls nicht den Eindruck, als ob sie überwiegend italienischer Abstammung seien, mit Sicherheit ist viel Indianerblut eingeflossen. Mit großer Freundlichkeit begegnen die Einheimischen demjenigen, der ihrer Kultur Interesse entgegenbringt, und so geschah es mir, als ich unter dem Standbild des Stadtgründers und Konquistadors Aguirre, in kontemplative Betrachtung versunken, von einem Mann hellauf begeistert nach der Uhrzeit gefragt werde. 
    Unser Camping-Platz am Fluß liegt im Schatten von "langnadeligen" Casuarinen, und der Río Dulce führt ungewöhnlich viel Wasser um diese Zeit, wahrscheinlich infolge der heftigen Niederschläge der vergangenen Tage. Auf der ihn überspannenden Brücke stehen am Abend die Fischer, arme und brave Leute, und werfen ihre Ruten aus. Große und prächtige Exemplare von Fischen sehen wir sie allerdings nicht herausziehen. – Nachdem wir in der Nacht die südamerikanische Fröhlichkeit aus den dröhnenden Lautsprechern der benachbarten Disco erfahren durften, fühlen wir uns am nächsten Morgen wie gerädert.

Nichts als Zuckerrohr

    Über Río Hondo verläuft unsere heutige Tagesroute, ein kurzes Stück nur, nach San Miguel de Tucumán, einem Zentrum der Zuckerrohrwirtschaft. Das Zuckerrohr wurde von Bischof Colombres eingeführt, in dessen Haus ein kleines Museum über die Zuckerrohrverarbeitung eingerichtet ist. Das Zuckerrohr gehört zur Familie der Süßgräser, der Poaceen. Saccharum robustum kommt noch heute in seiner Wildform in Neuguinea vor. Die Dächer der Eingeborenenhütten werden dort mit den Stengeln des Zuckerrohrs gedeckt. Alexander der Große lernte die Pflanze auf seinen Feldzügen kennen, die Araber brachten sie nach Europa. Ihr Verbreitungsgebiet stimmt in etwa mit dem der Palmen überein. Sie erreicht fünf bis neun Meter Höhe und wird bis zu zwanzig Jahre alt, die Blätter können zwei Meter lang werden. Es gibt zwölf verschiedene Unterarten des Zuckerrohrs, dessen herbe Stengel immer noch von Hand geschlagen werden. – 
    Niemals in der Geschichte hat ein spanischer Herrscher seine Kolonien selbst besucht. Den Kolonien war es zunächst untersagt, Eisen zu produzieren, und auch der Handel und Anbau von Oliven war auf das Mutterland beschränkt. Später, als es im Ausland produzieren ließ, wurde Spanien durch den Reichtum seiner Kolonien arm. Der Handelsweg der Spanier war abstrus: von Sevilla, am Guadalquivir gelegen, gelangten die Waren nach Nombre de Dios, einem Räubernest, das später von Drake niedergebrannt wurde, sodann auf dem Königsweg nach Peru und von dort über Tucumán nach Buenos Aires, mit dem Erfolg, daß die Waren unwahrscheinlich teuer wurden, was in den Kolonien zu Unzufriedenheit führte. 
    Die wohl schillerndste Figur der jüngeren argentinischen Geschichte ist zweifellos Juan Domingo Perón, der mit dem faschistischen Europa sympathisierende Diktator und Kinderschänder. Seine spätere Gemahlin Eva Duarte, vom Volk vergöttert und liebevoll Ewita genannt, wurde von Perón schamlos für seine politischen Zwecke ausgebeutet. Nachdem sich die beiden auf einem Ball kennengelernt hatten, ging Eva Duarte anschließend nicht in ihre Wohnung, sondern sie ging in die ihres späteren Gemahls, wo sie seine 13jährige Geliebte aus dem Hause ohrfeigte und an ihrer Statt auf ihn wartete. Dies brachte ihr in den vornehmen Kreisen von Buenos Aires den Ruf einer Prostituierten ein. Das Ende der Perón-Herrschaft endete damit, daß der Diktator von seinen ehemaligen Armeekollegen buchstäblich aus der Casa rosada hinausgebombt wurde. Perón ging danach zu seinem Freund Franco ins Exil. Seine zweite Frau, eine ehemalige Tingeltangeltänzerin, von Perón zur Vizepräsidentin ernannt, war nur mehr eine hilflose Marionette. Die Präsidentschaft ging nach der gewonnenen Wahl und nach dem Tode Peróns an sie über. Peróns wohl berühmtester Ausspruch war, er werde ganz Argentinien ausrotten, zuerst die Aufständischen, dann die Zaghaften, am Ende die Furchtsamen. Wegen der Kritik an seiner Regierung ließ Perón zahlreiche Regimegegner inhaftieren. Viele der Gefolterten wurden bei lebendigem Leib über dem Südatlantik aus dem Flugzeug gekippt.