Im Ort herrschen wieder unbeschreibliche hygienische Zustände, die Stadt gleicht einer Müllhalde, auf der schmutzige Menschen mehr dahinvegetieren als leben. Der Río Juliaca ist einer der Zuflüsse des Titicacasees, und bis vor vier Jahren mußte man über ihn die Furt wählen, da die Brücke nicht instand gesetzt war bzw. sich im Zustand der Ausbesserung befand. Somit nähern wir uns unserem nächsten Ziel, das ist Pukará.
Pukará heißt auf Ketschua Festung, und im gleichnamigen Ort befinden sich noch Grundmauern einer alten inkaischen Befestigung, die angelegt worden war, um das umgebende Gebiet unter Kontrolle zu halten. Zum Fest des heiligen Antonius finden hier Stierkämpfe statt, wobei betrunkene Indios gegen den Stier antreten. Dabei kommt es häufig zu Todesfällen. Ist der Stier nicht aggressiv genug, ritzt man ihm die Flanken und träufelt Chilischoten in die Wunde, woraufhin das Tier dann furchtbar aggressiv wird. Auch Ritualmorde kommen hier noch häufig vor, und zwar werden meist junge Menschen der Pachamama geopfert, zumeist Mädchen im Alter von siebzehn Jahren, aber auch Jungen sind darunter. Den Betroffenen werden die Halsschlagadern geöffnet, bis sie keinen Tropfen Blut mehr im Körper haben, und das alles nur, damit die Ernte im nächsten Jahr gut wird. Denn nach wie vor ist die Aymara-Kultur lebendig. Man glaubt, daß jeder Mensch zwei Seelen habe, die nicht getrennt werden dürfen, und diese Vorstellung geht auf die Inkas zurück. Die Aymara-Sprache wurde sogar, weil sie sehr logisch aufgebaut ist, als Basis-Sprache für Computer weiterentwickelt. Bei der Aymara-Bestattung wird der Tote nicht voll in die Erde gebettet, sondern es wird ihm ein oberirdisches Fenster nach draußen gelassen, meistens von einem Häuschen bedeckt.
Voraus wird nun die Sicht auf den Nam Pikuani frei. Dann kommen wir an Ayaviri vorbei, das immer ganz schlimm von der Sendero Luminoso betroffen war. Das oberste System des Sendero Luminoso war es, den alten Inkastaat wiederzubeleben, allerdings mit äußerst marxistischen Methoden. Brillenträgern etwa wurde der Kopf abgeschlagen, da die Brille das Zeichen des Intellektuellen ist.
Das nahe Santa Rosa wird überragt vom Nevado de Sunipani. Ab jetzt steigt die Straße an bis zum 4338 m hohen LaRaya-Paß. Hinter der Paßhöhe beginnen die Quellflüsse des Río Urubamba. In der Nähe von Sicuani befand sich in inkaischer Zeit der berühmte Viracocha-Tempel, der Tempel der Schöpfergottheit. Viracocha wurde meist mit Jesu gleichgestellt. Neben dem Tempel stehen große Nahrungsspeicher, denn bei Feierlichkeiten mußten die Menschen vom Tempel versorgt werden. Von letzterem sind aber kaum noch Reste vorhanden. Bei Sicuani überqueren wir auch den Río Vilcanota, der weiter flußabwärts zum Río Urubamba wird.
Auch in Peru hat es im vergangenen Sommer viele Murenabgänge gegeben, was man aus der großen Zahl von Baustellen ersehen kann, die erkennen lassen, wo überall Straßen ausgebessert worden sind. Es ist beeindruckend, wie zahlreich sich zu beiden Seiten des Flußtales die Terrassen bis fast zu den Berggipfeln hinaufziehen. Durch ein an grünen, zum Teil terrassierten Hängen reiches Flußtal setzt sich unsere Route fort, auf erst im Ausbau befindlichen, meist ungeteerten Straßen, wo der Stechginster noch am Blühen ist. Nach einer Brücke über den Río Vilcanota kommen wir nach Urcos, wo die ledigen Mädchen flache Hüte tragen, die verheirateten Frauen hochkrempige. Ansonsten ist dies ein primitives Nest, das man schnell wieder fliehen möchte. In der Lagune von Urcos, einem alten Kratersee, den bis heute niemand ausgelotet hat und der nach Aussage der Einwohner grundlos sein soll, ist angeblich die goldene Kette von Cuzco versenkt worden. Diese Kette, welche die Spanier gesehen haben, wurde bislang nicht aufgefunden. Sie soll nach anderen im Titicacasee versenkt worden sein. Jacques Cousteau versuchte mit seinem U-Boot, den Inkaschatz zu finden, vergeblich! Was er fand, war eine unbekannte Froschart.
In Höhe der vorinkaischen Ruinenstätte Pikillaqta, die der Huari-Kultur zuzuordnen ist, verlassen wir das Tal des Río Vilcanota, der in Richtung Pisac weiterfließt, und folgen dem Flußtal des Huatanay. Vor uns sehen wir die Reste einer alten inkaischen Mauer, durch die die alte Inka-Reichsstraße hindurchführte. Als die Sonne ihre letzten Strahlen über das Gebirge schickt, erreichen wir Cuzco, das in den letzten Jahren gewaltig angewachsen ist. Die Zuwanderer Cuzcos wurden schon von den Inkas in Richtung der vier Weltgegenden angesiedelt, so daß sich aus der Vogelperspektive die Form eines Pumas ergab. Die vier Füße des Pumas haben Ihre Entsprechung den vier Flüssen Perus, die allesamt nach Nordwesten fließen: Apurímac, Urubamba, Ucayali und Marañón.
Im Nabel der Welt
Cuzco heißt "der Nabel der Welt". Es liegt in einem Talkessel, das Stadtzentrum in einer Höhe von 3400 m. Nachdem wir gestern abend noch einen flüchtigen Spaziergang durch die Stadt wagten und von dem nächtlichen Treiben, das sich dort abspielte, ganz angetan waren, machen wir uns heute morgen auf zu einer eingehenderen Besichtigung der Sehenswürdigkeiten. Unser erster Besuch gilt dem Sonnentempel Qoricancha, dem einst größten Heiligtum im Inka-Staat, welches Francisco Pizarro dem Dominikaner Valverde zur Errichtung des Klosters Santo Domingo schenkte. Die Grundmauern, durch die bekannte Fugentreue aller inkaischen Bauten sich auszeichnend, sind nochmals eine Steigerung alles und jeden, was wir an Mauerwerk bislang gesehen haben oder noch sehen werden. Es scheint, als wären die Blöcke submillimetergenau mit dem Laserstrahl herausgeschnitten und mit elektrischen Schleifsteinen poliert worden, derart glatt und übergangslos sind diese Granitblöcke geformt und aufeinandergesetzt, hochgehoben von einer unbekannten Kraft, geradezu, als hätten die Inkas das Problem der Gravitation gelöst gehabt und ein Wissen besessen, das uns Heutigen wieder abhanden gekommen ist. Und stets neigen sich diese Palastmauern überhängend nach außen, sich nach dem Boden hin verjüngend, von durchbrochenen und blinden Fenstern durchsetzt. Mit dieser Art zu bauen haben sich die Inkas unvergänglichen Ruhm erworben und der Nachwelt ein unnachahmliches Zeugnis bis in alle Ewigkeit überliefert. Wäre nicht seinerzeit Cuzco von einem Erdbeben heimgesucht worden, wir wüßten wohl nie, was sich unter den Klostermauern verbarg, hätte nicht der Spaten danach gesucht. Somit hat es sich also mehr als einmal bewahrheitet: die spanische Barbarei hat unschätzbare Kulturgüter zu vernichten getrachtet – und beinahe wäre ihr das auch gelungen –, um ihre bigott schwülstigen und überladenen Kirchenbauten daraufzusetzen; und wahrlich, jeder einzelne von einem Inka behauene und geglättete Stein ist tausendmal schöner als all der pompöse und überschwengliche Zierat. Warum mußten diese Fehlgeleiteten in ihrer religiösen Engstirnigkeit eine unvergleichliche und großartige Kultur vernichten? Die Antwort kann nicht nur in der Gier nach Gold und Edelsteinen liegen, nein, es sollte die Erinnerung ausgelöscht werden an vergangene Pracht und Herrlichkeit, es war das erklärte Ziel, mit Stumpf und Stiel auszurotten, was nachmalig zu einer Bedrohung hätte werden können. War dem Indio erst seine Identität geraubt, war er zum Nichts gestempelt; so war er willfährig und gefügig in den Augen der neuen Machthaber. Auch wenn diese mit Recht sich angewidert fühlten von den grausamen Menschenopfern, hätten sie sich nicht mit dem Töten der Menschen begnügen können, um wenigstens die Bauwerke zu erhalten?