Vom Sohn der Sonne

    Tiahuanaco, einstmals Hafenstadt, als die Ufer des Titicacasees noch bis hier heranreichten, ist eigentlich noch nicht richtig ausgegraben. Dennoch läßt sich anhand dessen, was bisher der Öffentlichkeit zugänglich ist, einiges erahnen. Kernstück der Anlage ist das Akapana, eine Stufenpyramide, die in mehreren Terrassen angelegt ist, deren jede von einem wassergefüllten Kanal umgeben war. Das Wasser floß einst von der obersten Stufe herab, aber was es zu bedeuten hatte, ist bis heute unklar. Beachtenswert ist, daß jede "Etage" hinsichtlich ihrer Mauerfügung anders ausgelegt ist, Zwischenräume zwischen größeren Steinen wurden mit kleineren ausgefüllt. Beinahe jedes menschliche Vorstellungsvermögen übersteigend ist die wechselseitige Fügung der Steine aneinander, die als absolut lückenlos anzusehen ist, so daß sich die Frage stellt, mit welchen Werkzeugen die tonnenschweren Steinblöcke "zersägt" wurden, ehe man sie nahtlos aufeinandersetzte. Selbst heutige Steinmetze wissen darauf keine Antwort. Lediglich bezüglich des Schliffs scheinen sie sich einig zu sein. Man schmirgelte die Blöcke so lange mit Wasser und Sand, bis eine Art Politur zustande kam. Zwiespältige Erklärungen lieferten sich die Archäologen allemal. So widersprachen Stübe und Uhle ihrem Kollegen Posnansky in beinahe allen Punkten, in denen dieser eine Erklärung anbot. Dennoch ist sich die Fachwelt heute darüber einig, daß seine Sicht der Dinge in vielen Punkten der Wahrheit am nächsten kommt. Einen etwas abseits liegenden Granitblock, der wohl als Opferstein gedient haben mag bzw. wie ein miniaturisiertes Modell der Gesamtanlage aussieht, schätzen wir auf gut 400 Tonnen. Da die Leute von Tiahuanaco das Rad nicht kannten, bleibt offen, wie diese Giganten transportiert wurden. Da man annimmt, daß der Wasserspiegel des Titicacasees zur Zeit der Hochblüte der Tiahuanaco-Kultur bis an die Tempelanlage heranging, liegt nahe, daß die Steine auf Schilfbooten transportiert und anschließend mit Seilen über den Boden geschleift wurden, ehe man sie aufstellte. Unklar bleibt auch, über welche Entfernung diese transportiert wurden, denn die nächsten Steinbrüche sind weit entfernt. Im benachbarten Templete semi-subterraneo, dem sogenannten halbunterirdischen Tempel, dessen Mitte eine Stele ziert, die einen bärtigen Mann darstellt, sind ringsum Steine mit Gesichtern in die Wände eingelassen, die teilweise sehr gut erhalten sind, womit wir bei der nächsten Frage wären: Woher kannten die Indios, denen selbst kein Bart wächst, Männer, die einen solchen trugen? Dieser Umstand rief Erich von Däniken auf den Plan, dessen abstruse Theorien aber heute ausgedient haben. Von der Stele mit dem Bärtigen hat man einen Blick durch das Tor der Kalasasaya auf einen Monolithen, der wahrscheinlich eine männliche Gottheit darstellt, die hinsichtlich ihrer künstlerischen Gestaltung als meisterhaft bezeichnet werden kann und den Namen ihres Entdeckers Ponce trägt. Die Außenwände der Kalasasaya, und dies läßt sich mit dem Auge prüfen, sind von einer Unebenheit, die im Prozentbereich ihrer Abmessungen liegt, und man wundert sich, mit welcher Genauigkeit hier das Lot gebraucht wurde. Zur Sommersonnenwende scheint die Sonne genau in Richtung der Verbindungslinie beider erwähnten Stelen, und es verwundert noch mehr, daß die Leute von Tiahuanaco ein unglaubliches astronomisches Wissen besessen haben müssen. Auch das Sonnentor am Eingang zum Putuni, dem Palast der Sarkophage, ist mit merkwürdigen Mustern ausgeschmückt, bei denen die Zahl zwölf eine besondere Rolle spielt, was die Frage aufwirft, ob der Mondkalender bekannt war. Im erst kürzlich eingerichteten Museum von Tiahuanaco sind die Funde, die auf dem Gelände gemacht wurden, ausgestellt, vor allem Keramiken mit den raffiniertesten Tiermotiven, Waffen und Gerätschaften sowie Schmuck in Blattgoldausführung. Alles was die Spanier dereinst an Gold vorfanden, wurde längstens geplündert, und die Chronisten berichten von riesigen Schätzen. Selbst die Technik des Anlegens von Gewächshäusern war den Leuten von Tiahuanaco vertraut, bei ihnen waren es die sogenannten Sukakollus, für die ein ausgeklügeltes Bewässerungssystem erdacht wurde, womit sich konstante Temperaturen erzielen ließen. Die Inkas haben Tiahuanaco gekannt und auch besucht, und vieles aus ihrer Kultur ist daraus entnommen. Wieso und warum die Kultur von Tiahuanaco plötzlich verschwunden ist, vermag niemand zu sagen. Wir wissen im wesentlichen nur soviel, daß es sich nicht um eine Stadt, sondern um ein religiöses Zentrum gehandelt hat. 
    Nach der Besichtigung von Tiahuanaco verlassen wir Altoperu, sprich Bolivien, und kommen nach dem eigentlichen Peru. Bei der Einreise wird die Uhr nochmals um eine Stunde zurückgestellt, so daß der Zeitunterschied zu Europa 7 Stunden beträgt. Um über die Grenze zu gelangen, muß man quer über einen Markt fahren. Bei der Einreise finden verschärfte Personenkontrollen statt. Überhebliches Lächeln wirkt sich dabei eher nachteilig auf die Zügigkeit der Abfertigung aus. 
    Bald bekommen wir die ertrunkenen Schilfgürtel zu Gesicht, die die lieblichen Ufer des Sees ausmachen. Nach Schilfbooten wird man auf der bolivianischen Seite vergeblich Ausschau halten, diese gibt es schon längst nicht mehr, sie wurden alle durch moderne Glasfaserboote ersetzt. – Der Titicacasee sieht aus wie die Gestade eines Meeres. Er liegt in einer weiten Ebene, aber auch einige Berge ragen in der Ferne auf. Mit seinen aquamarinblauen Wassern, den grünen Schilfgürteln und den rötlichen Felsufern übertrifft er an Farbigkeit alles, was es im Lande an Seen gibt. Er hat das ganze Jahr über eine relativ konstante Wassertemperatur von 12 °C, und diese variiert auch über die gesamte Tiefe des Sees nur gering. Rund um ihn herrscht ein eigenes, milderes Mikroklima, so daß unter idealen Bedingungen Landwirtschaft getrieben werden kann, vor allem wird Quinoa angebaut. Quinoa, die Andenhirse, gedeiht prächtig in diesen Höhen, denn sie gedeiht nur unter bestimmten Bedingungen. Der Anbau von Hirse wurde von den Spaniern abgelehnt, weil er nicht den europäischen Lebensgewohnheiten entsprach. 
    Während rechter Hand wie ein Silberstreif der kleine Titicacasee, der Lago Chico, auftaucht, steuern wir fast direkt auf die Halbinsel Copacabana zu. Dort befindet sich ein Marienheiligtum. Man spricht hier mit den Heiligen und droht ihnen sogar mit der Faust. Die Kirchen von Laca, Guaci und Tiahuanaco stammen allesamt aus dem Baumaterial der archäologischen Stätte. Der Stadt Copacabana vorgelagert sind die Sonnen- und die Mondinsel. Inka heißt Sohn der Sonne, und auf der Sonneninsel im Titicacasee wurde der erste Inka geboren. Zuerst waren es acht legendäre Inkas, dann gab es drei verbürgte. Diese waren der Inka Yupanqui mit dem Beinamen Pachacútec, was soviel heißt wie Verwandler der Erde, Topa Inca, der Eroberer der Küstenregion, und Huayna Capac, der das Reich nach Norden bis Kolumbien ausdehnte. Zwischen den beiden Söhnen Huayna Capacs, Atahualpa und Huáscar, entspann sich ein Bruderkrieg, der damit endete, daß Atahualpa seinen Bruder und Rivalen umbringen ließ. 
    Wie also kam es, daß der Schweinehirte und Analphabet Pizarro sich siegessicher auf einen Kampf einlassen konnte? Truchillo in der Estremadura, ein steiniges, unwirtliches Land, das Menschen hervorbrachte, die etwas auszuhalten imstande waren, war nicht nur die Heimat Pizarros, sondern auch gleich fünfundfünfzig weiterer Conquistadores, die uns alle namentlich bekannt sind. Pizarro folgte 1502 dem Lockruf des Goldes und begleitete Vasgues Bilboa auf dessen Zug nach Panama. Er erreichte schließlich die Küsten Ecuadors oder Perus, von dessen sagenhaften Goldschätzen er gehört hatte.