In Carracollo, unserem geplanten Übernachtungsort, können wir nicht bleiben, weil sich dort eine Menge von sogenannten Cocaleros, d.h. Koka-Bauern, für den Zug auf La Paz versammelt hat und wir als Gringos angesichts der gespannten Situation nur Aufsehen erregen würden. Also fahren wir ein Stück weiter bis Patacamaya. Gegen Abend taucht dann in der Abendsonne der Hausberg von La Paz, der schneebedeckte Illimani, auf. Damit betreten wir die Kernlande des Inka.

Im Mondtal

    Als wir am Morgen des 18. April bei wolkenlosem Himmel und strahlendem Sonnenschein aufbrechen, fällt unser Blick auf den in der klarsten Luft aus dem Altiplano aufragenden, schneebedeckten höchsten Berg Boliviens, den Vulkan Sajama. Auch der Illimani, der rechter Hand näherrückt, verbirgt sich heute nicht hinter Wolken. Nun kommt auch die Königskordillere in Sicht, atemberaubend, schneebedeckt: der Illampu im Norden, der Illimani im Süden, dazwischen von Nord nach Süd Ancohuma, Vinohuara, die Condoriri-Gruppe, Huayna Potosí und Mururata. Zahlreiche Legenden ranken sich um diese Berggestalten. 
    Über El Alto, der Vorstadt von La Paz, die geprägt ist von Rost, Altöl und Ruß, nähern wir uns dem Zentrum. Auch hier wieder kann man erkennen, welch ein Schädling doch der Mensch ist und wie sehr es gilt, ihn zu bekämpfen. El Alto ist die am schnellsten wachsende Stadt Südamerikas, hier liegt auch der Flughafen von La Paz, wo etliche ausrangierte Maschinen herumstehen. Die Stadt selbst liegt in einem Talkessel, der eher einem Hexenkessel gleicht. Die Abgasbelastung ist dort so stark, daß die Schuhputzer auf den Straßen vermummt herumlaufen. Die besseren Wohngegenden liegen, anders als anderswo, in den tieferen Lagen. Wir verkehren nun auf der einzigen Autobahn Boliviens, die nur 16 km zählt und von der aus man, den Smog nicht eingerechnet, einen großartigen Blick auf die Stadt hat. Unser Hotel liegt direkt im Zentrum. "Meiden Sie in La Paz größere Menschenansammlungen," rät man uns, "denn es gilt fast als sicher, daß die Polizei mit Tränengas anrücken wird." Auch wenn die Vororte von La Paz unschön sind, so ist es doch die einzigartige Lage der Stadt, die, von hohen Bergen umrahmt, alles andere aufwiegt. Wenn sich im Hintergrund die Schneehänge des Illimani im wolkenlosen Blau des Himmels abzeichnen, wenn unter uns bizarre, vielfarbige Erosionsformen, von zahlreichen Tunnels durchbrochen, von den Straßen wie von den Schienen einer Modelleisenbahn umkreist werden, dann fliegt die Seele eines jeden auf, und du spürst den Hauch des Ur-Einen, das sich zu einem Fortissimo der Superlative steigert. Dennoch gibt es in der Stadt, in der es nachts bitterkalt werden kann, nicht einmal eine Heizung, und wer friert, der muß sich warm anziehen. 
    Deutsche gelten viel in dieser Stadt, denn sie schaffen Arbeitsplätze, sind pünktlich, fleißig und ordentlich, und unser Paradebeispiel ist der unserem Franz-Josef Strauß wie aus dem Gesicht geschnittene Politiker und Großindustrielle Banzer, der Bier nach deutschem Reinheitsgebot braut. Viele Entwicklungsprojekte Boliviens einschließlich der Lösung von Umweltproblemen werden von deutschen Firmen abgewickelt. – 
    In der Stadt dürfen nur Kleinbusse verkehren, und mit einem solchen Gefährt fahren wir gleich nach unserer Ankunft in die Gluthölle des Mondtales, einer Bilderbuchlandschaft bizarrer Felsformationen, die in der Tat den Eindruck vermitteln, man sei auf dem Mond gelandet. Nur schade, daß niemand dieses Stück bezaubernder Natur vor dem Zugriff des Menschen geschützt hat, wie die zahlreichen, aus den Drogenerlösen erbauten Luxusvillen in der unmittelbaren Nachbarschaft beweisen. Anschließend fahren wir zu einem hochgelegenen Aussichtspunkt, wo sich ein überwältigender Blick auf die Stadt auftut, der nahezu einem 360-Grad-Panorama gleichkommt. Während im Tal moderne Wolkenkratzer mit kolonialen Bauten wetteifern, ziehen sich die Häuser der einfachen Leute schachtelartig die Hänge bis unterhalb der Gipfel hinauf. 
    La Paz wurde von Alonso de Mendoza gegründet. Unter den Resten an Vergangenem haben vor allem das Parlamentsgebäude, der Gouverneurspalast und die Kathedrale San Francisco die Zeiten überdauert, aber auch schmucke Häuserzeilen mit reizvollen Innenhöfen und Außenbalkonen sind geblieben. Die Plaza, der historische Hauptplatz, wird von Tauben bevölkert, und wenn alle auf einmal auffliegen, verdüstert sich die Sonne, so zahlreich sind sie. Die Kathedrale ist – auch auf die Gefahr hin, daß ich mich wiederhole – aufs üppigste mit Blattgoldverzierungen ausgestattet. Wer sich dafür nicht interessiert, kann über die weitläufigen Märkte schweifen, wo er Gold- und Silberschmiedearbeiten oder auch nur indianische Schmuckstücke in reicher Auswahl angeboten bekommt. Erwähnenswert ist die auf indianische Bräuche zurückgehende Verwendung von Lamaföten als Amulette oder Glücksbringer, in denen sich der Glaube an die Muttergottheit, die Pachamama, widerspiegelt. Aus beinahe jedem zweiten Laden erklingt die Musik der Hochlandindianer, deren charakteristisches Instrument die Flöte ist. 
    Kaum eine Stunde vergeht, daß nicht ein ebenso musikalischer wie farbenfroher Demonstrationszug unter unserem Hotelfenster vorbeizieht. Es gärt im Lande. Einerseits fehlt es den kleinen Leuten an Land für die Errichtung ihrer Behausungen, – häufig wird öffentlicher Grund einfach in Besitz genommen –, andererseits verbietet der Staat den Bauern den Anbau traditioneller Produkte. Deswegen sind die Cocaleros nun auf dem Vormarsch in Richtung Stadt, und wir können von Glück sagen, daß wir bislang den Straßenblockaden, die oft das ganze Land lahmlegen, entgangen sind. Aber am 1. Mai, wenn wir Bolivien bereits verlassen haben, soll es ernst werden mit der Durchsetzung der Forderungen. 
    Unsere lokale Reiseleiterin klärt uns über die vielen nützlichen Eigenschaften der Koka-Pflanze auf, die nicht nur ein ausgezeichneter Spender von Vitaminen und Mineralstoffen sein soll, sondern auch vor Parodontose schützt. Der Kokagenuß, also das Kauen der Kokablätter, ist auf Höhen über 2000 m in Bolivien und Peru legal. Um die Wirkung der Kokapflanze zu entfalten – diese besteht aus einem lähmenden Gefühl im Mundbereich – braucht man einen Katalysator, der zusammen mit den Kokablättern gekaut werden muß. Ihr Anbau habe aber nichts mit der Herstellung des Kokains zu tun, erklärt sie, und so gesehen sind es fast immer die Koka-Bauern, deren Erlöse ohnehin gering sind, die die einzig Leidtragenden seien. Schließlich sei die Pflanze kein Kokain, meint sie, und überhaupt sei letzteres von einem Deutschen erfunden worden, was wie ein Vorwurf klingt. Sie beklagt, daß die Bauern, die durch den Druck der USA ihre Existenz verlören, nicht einfach auf andere Produkte umsteigen könnten, da es deren bereits hinreichend gebe, und ohne die Erlöse aus dem Drogenhandel könne das Land nicht existieren. Nur solange der Drogenhandel illegal sei, ließen sich damit Milliarden verdienen. Auch die Untergrundbewegungen arbeiteten mit dem Drogenkartell zusammen. Wie dem auch sei, die USA würden ihre Finanzhilfe für das Land einstellen, wenn die Regierung ihren Forderungen nicht nachkäme, und dies wäre gleichwohl sein Ruin.