Nach Schätzungen leben heute knapp 8 Millionen Einwohner in Bolivien, davon sind 41% jünger als 15 Jahre. Da sich die Bevölkerung auf die großen Städte verteilt, bleibt für das Hinterland nicht mehr viel übrig. 80% der Bevölkerung leben im Hochland, 65% sind ketschuasprachige Indios, 30% Mestizen, 1% Mulatten und 4% Weiße. Spanisch sprechen nur etwa 50% der Bevölkerung. Bolivien zählt mit Haiti zu den ärmsten Ländern Lateinamerikas. Mehr als 60 % der bolivianischen Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze, und das Land steht vor einem Bürgerkrieg. Sehr viele Menschen wandern aus den Dörfern ab in die Slumviertel der Großstädte, wo sie dann das Lumpenproletariat stellen.
Die Häuser der Armen sind mit Icho-Gras gedeckt – so nennt man das Büschelgras des Hochlandes – und haben keinen Schornstein, die luftgetrockneten Adobe-Ziegel dienen als Bausubstanz. Als Brennmaterial wird Lama-Dung verwendet, der Rauch zieht durch das Grasdach ab, was das Innere zugleich von Insekten reinigt. In ihren Behausungen leben die Menschen ohne Heizung, denn daran besteht kein Interesse.
Es ist völlig unmöglich für einen Weißen, die Mentalität eines Indios verstehen zu wollen. Abstrakt zu denken ist dem Indio nahezu unmöglich, er besitzt völlig andere Denkmuster. Auch arbeitet der Indio nur soviel, wie er zum Leben unbedingt braucht. Junge Paare führen zunächst Ehe auf Probe. Das Kennenlernen sieht folgendermaßen aus: Interessiert sich ein junges Mädchen für einen Burschen, nimmt sie einen Spiegel und blendet ihn damit. Interessiert er sich dann für sie, bewirft er sie mit Steinen, jedoch nicht, um sie zu verletzen. Danach zerrt er sie ins Gebüsch, keine besonders romantische Vorstellung! – Die Indiofrauen tragen als Kopfbedeckung Melonen, und ihre Röcke bestehen aus bis zu sieben Einzelteilen. Kinder werden bis zum Alter von zwei Jahren gestillt.
In dieser Gesellschaft hat der Mann das Sagen. Die Frau akzeptiert, daß ihr Mann betrunken nach Hause kommt, sie schlägt, eine andere Frau hat, und es ist schwer, einen Grund hierfür zu finden außer dem, der in der gesellschaftlichen Tradition begründet liegt. Ein anderer möglicher Grund ist, daß eine Frau ohne Mann in der Gesellschaft nicht anerkannt wird. Das Gesetz wurde nun dahingehend geändert, daß Gewalt in der Ehe ein Straftatbestand ist und zur Anzeige gebracht werden kann. Einen Aufschrei gab es, als Pfarrer Obermeier lautstark verkündete, daß die Frauen "sich nicht so haben sollten," denn es gebe ja schließlich einen Grund, wenn ein Mann seine Frau schlage.
Wie überall in Südamerika mischt sich auch in Bolivien die Kirche mit ihrer sogenannten Befreiungstheologie arg ins politische und soziale Geschehen ein, was von der katholischen Kirche durchaus nicht gutgeheißen wird. So wurden verschiedene lateinamerikanische Theologen mit Publikationsverboten belegt, damit der Papst weiterhin die uneingeschränkte Vermehrung predigen kann, was angesichts der schwerwiegenden Probleme in diesem Land fast einem Frevel gleichkommt. Wenn man jedoch sieht, welchen Zulauf die katholische Kirche in Südamerika immer noch hat, bleibt kaum Hoffnung darauf, daß sich die Verhältnisse hier schnell ändern oder jemals zum Besseren wandeln könnten.
Goldfluß
Noch immer bewegen wir uns parallel zu Eisenbahn. Nach eintöniger Fahrt tut sich das Tal des Río San Juan del Oro unter uns auf, über dem schwere Niederschläge niedergehen, die schwarzen Berge im Hintergrund bilden dazu eine spektakuläre Kulisse. Über uns spielen sich die Naturgewalten ab, ein Gewitter steht fast senkrecht über uns, es donnert und blitzt, aber der Regen hat uns noch nicht erreicht. Es ist ein wahrhaft gespenstisches Szenario, wie riesenhafte Kakteen unter blendend-weißen Wolken einerseits und unter von Blitzen durchzuckten schwarzen Wolken andererseits sich wie durstige Kehlen gen Himmel recken und in der Ferne der 6020 m hohe, schneebedeckte Vulkan der Neuen Welt (Cerro Nuevo Mundo) sich ankündigt. Romantisch windet sich die ehemalige Bahnstrecke um die Hügel, einmal ganz zu sehen, ein andermal dem Blick entzogen. Wir nächtigen an diesem Tag in freier Natur im Tal des Río del Oro, zu Füßen phantastisch geformter Erosionen, direkt im ausgetrockneten Flußbett. Die Goldfunde waren rasch erschöpft, aber der Name, den die Spanier überschwenglich verliehen, ist geblieben.
In der Nacht brennt das Lagerfeuer rasch nieder, denn geeignetes Brennmaterial findet man in dieser Höhe kaum. Im Wetterleuchten werden unter dem Einfluß des Weines alte Lieder gesungen, die wehmütig an längst vergangene Zeiten erinnern. Beim Genuß des Alkohols entfacht sich eine Diskussion mit dem Reiseleiter. Dieser behauptet, daß nachwachsende Rohstoffe wie Tabakblätter und Holz bei der Verbrennung zu einer Anreicherung des CO2-Gehaltes der Luft führen, was natürlich blanker Unsinn ist, aber er beharrt rechthaberisch auf seinen Thesen. Erstmals wird mir klar, daß er sein Wissen nicht auf einer Höheren Schule erworben haben kann und von Naturwissenschaften wenig Ahnung hat, dafür aber eine gute Portion Arroganz, die in persönlichen Beleidigungen gipfelt. Ich schätze es immer ganz besonders, wenn mich Laien über das eigene Fachgebiet aufklären oder mir Dinge erzählen, die eigentlich jedes Schulkind weiß.
Als wir am Morgen des Gründonnerstags aufbrechen, steht uns erneut ein anstrengender Tag bevor. In der aufgehenden Sonne, im ersten Lichtstrahl, nachdem der Morgenstern versunken ist, entfaltet das von Spalten, Kaminen, Felstürmen und Pilzfelsen übersäte Steilufer des Goldflusses seine volle Pracht. Zunächst durchqueren wir ein Gebiet wilder Schluchten und Bergzüge, bis wir an den Zusammenfluß des Río del Oro mit dem Río Tupiza kommen, wo gewaltige Basaltmassive die Landschaft geformt haben. Wir folgen fortan dem Río Tupiza flußaufwärts, einem an Wildheit einzigartigen Flußlauf. An einem Tunnel, den wir bald darauf erreichen und der mehrere Felsdurchbrüche aufweist, lassen sich spektakuläre Photos schießen. Basaltformationen wechseln mit zu Brecchien verbackenen Konglomeraten ab, die von der Winderosion nicht weniger wild geformt wurden. Wären da nicht der grüne Bewuchs und der blaue Himmel, könnten wir uns auf den Mars oder einen seiner Monde versetzt fühlen.