Hinter der Brücke über den Río Tupiza erblicken wir links auf einer Anhöhe ein Bild der "Jungfrau vom Stollen", der Schutzpatronin der Bergleute, die hier verehrt wird. Im Ort herrscht Markt, Indio-Markt. Ein mittelgroßer Europäer hat alle Mühe dort, ohne den Kopf einziehen zu müssen, unter den Zeltüberdachungen hindurchzugehen, zu niedrig sind die Gestelle errichtet; nur Indios, die entsprechend klein sind, können ungehindert durchschlüpfen. Tupiza ist berüchtigt dafür, daß sich hier von Nordamerika unterstützte Sektenangehörige der Methodisten und Adventisten bemühen, unter der indianischen Bevölkerung Opfer zu finden. Angesichts der unbeschreiblichen hygienischen Verhältnisse ist es kein allzu großes Vergnügen, hier länger zu verweilen. Wir decken uns mit dem Nötigsten ein, was gerade für ein Picknick reicht, und fliehen den Ort.
Man hüte sich davor, das Gebiet des Salzsees von Uyuni aufzusuchen, denn dort besteht Gefahr einzusinken. Der Boliviano ist es gewohnt, daß er, wenn Regenfälle die Straße unpassierbar machen, für Wochen hier festsitzt. Per Anhalter fahren kennt man hierzulande nicht; wer nicht zahlen kann, fährt nicht mit. In Bolivien gibt es für ein Fahrzeug – es sei denn, man befindet sich im Altiplano – nur zwei Möglichkeiten: entweder es geht bergauf oder es geht bergab! Dabei passiert es häufig, daß Lkws und Busse verunglücken, und meistens kommen dabei Menschen ums Leben. Die Straße ist kaum breit genug für ein Fahrzeug, geschweige denn, daß zwei Lkw aneinander vorbeikämen. Glitzernder, stark erodierter, brüchiger Basaltschiefer umgibt uns. Immer wieder kommen wir an aufgegebenen Gehöften vorbei, und immer wieder fällt der Blick in die Schlucht, während wir von dichten Staubwolken eingehüllt werden. Man muß dankbar sein für jedes Fahrzeug, welches nicht entgegenkommt.
Zwischendurch wechselt das Landschaftsbild, und es wird eben; ausgedehnte, mit Grasbüscheln übersäte sandige Böden prägen diese Landschaft; nur ab und zu sind sanfte Hügel eingebettet. Natürlich besitzt Bolivien auch viele nichtssagende und hassenswerte Landschaften. Im Schatten von Dornbuschakazien – aus den Schoten dieser Akazie wird ein Likör gewonnen, der als Aphrodisiakum gilt – nehmen wir unser bescheidenes Picknick ein: Brot, Wasser und Bananen, während sich über uns labile Luftmassen zu massiven Gewitterwolken auftürmen.
Wir kommen nun durch das am gleichnamigen Fluß liegende Städtchen Cotagaita, das 1576 gegründet wurde. Der nächste Fluß, den wir auf einer hölzernen, wackligen Brücke überqueren, ist der Río Camaillo ó Quince. Es ist ungewöhnlich heiß heute und gewittrig im bolivianischen Hochland, über 30 °C in über 3000 m Höhe. Auf 3200 m Höhe messen wir noch 28 °C, und selbst in 4000 m Höhe sieht man immer noch Kolbris herumschwirren. Bei guten Wetterverhältnissen, die an diesem Tag leider nicht herrschen, bietet sich von der gegenüberliegenden Seite des Tales ein prächtiger Blick auf den Verlauf der sich hochschlängelnden Straße mit dem Vulkan Cerro de Nueve Mundo im Hintergrund. – Bei Vidici ist noch eine alte Kapelle aus dem 17. Jahrhundert erhalten geblieben. Es gibt in dieser Gegend noch weitere dieser Kapellen, die alle auf die Franziskaner zurückgehen.
Anschließend fahren wir durch das enge, aber liebliche Tal des Río San Lucas, wo wir am Ende, mit viel Staub in der Lunge, zwischen Wollgräsern unser Lager aufschlagen. Es ist einfach phantastisch, denn wer hätte gedacht, daß man in einem Fluß in mehr als 3000 m Höhe noch baden kann. Bald, als die Sonne versunken ist, zeigen sich die Sterne, und zwar in einer überwältigenden Pracht, wie ich sie lange nicht mehr gesehen habe: Orion, Sirius, Jupiter, das Kreuz des Südens, Alpha und Beta Centauri, die Milchstraße und die Magellansche Wolke sind ohne weiteres auszumachen; bereits mit einem kleinen Feldstecher nimmt die Zahl der Sterne ums Tausendfache zu. Mit klassischer Musik und Gedichten des chilenischen Literaturnobelpreisträgers Pablo Neruda geht ein erlebnisreicher Tag zu Ende.
Der Reiche Berg
Am frühen Morgen des Karfreitags kommt der Vulkan Matako (5057 m) aus den Wolken hervor. Mit einiger Phantasie kann man noch die bereits stark erodierten, bizarr geformten Krater erkennen. Der Vulkan gilt heute als erloschen, und nach allem, was ich von unten erkennen kann, dürfte eine Besteigung nicht allzu schwierig sein. An seinen Hängen – die Lupinien stehen dort noch in voller Blüte – wird das Getreide noch mit der Sichel geerntet.
In Cucho Ingenio, wo wir auf die Nationalstraße Nr. 1 treffen, füllen wir unsere Wasserkanister auf. Ab hier ist die Straße verbreitert worden, manch ausgesetzte Stelle stellt aber noch immer eine Herausforderung dar. In den Kurven waren früher, wo Fahrzeuge abgestürzt waren, viele Kreuze aufgestellt. Schade, daß sie weg sind, denn das Reisen erscheint dadurch weniger abenteuerlich! – An manchen Stellen, wo private Minenbesitzer Erzadern nachgehen, sind Löcher in den Berg getrieben. Da diese aber oftmals nicht das Geld haben, um Grubenholz für das Abstützen der Stollen zu kaufen, kommt es immer wieder zu Grubenunglücken, wobei es für die Betroffenen meist keine Rettung mehr gibt.
Jetzt und hier, irgendwo, erreichen wir die 4000er-Grenze. Die Luft ist nun auch spürbar dünner geworden, aber ich persönlich vertrage die Höhe gut. Andere schlucken Aspirin, das einzige, was gegen die Höhe hilft. Die Bachabrama-Gräser, die hier gedeihen und die sich ganz hart anfühlen, werden ausschließlich von Lamas gefressen, deren Mägen diese allein aufschließen können. Und als ein glückverheißendes Zeichen auf das bevorstehende Osterfest erscheint es uns, als wir heute, am Tag, an dem der Herr gestorben ist, ein neugeborenes Lama bewundern können.
Auf dem Cuzco-Paß, der in 4500 m Höhe liegt, sehen wir bereits den Cerro Rico vor uns, den Reichen Berg, den Hausberg von Potosí, der, kegelförmig, dem ebenmäßigen Ideal von einem Vulkan entspricht. Es ist wirklich mühsam, sich dem Silberberg zu nähern, Staub und kurvenreiche, bucklige Piste machen die Fahrt dorthin zu einer einzigen in Staub gehüllten Schaukelei. Die zahlreichen Steinhaufen, die man allerorts sieht, die sogenannten Huacas, die von Indios errichtet wurden, um die Erdgeister zu bannen, sind uralte Relikte heidnischer Symbolik.
Der Cerro Rico ist durchlöchert wie Schweizer Käse; insgesamt gibt es im Berg Stollen mit einer Länge von über 800 km. Es grenzt an puren Zufall, daß in den Bergen ringsum keine Silberfunde gemacht wurden. Oberhalb der Stadt wirkt alles wie umgepflügt, Abraumhalde reiht sich an Abraumhalde. Aus diesen Abraumhalden wird mit modernen Methoden noch heute Silber gewonnen. Das Wasser, das zum Auswaschen des Silbers verwendet wird, fließt ungeklärt und mit Quecksilber angereichert in den De-la-Ribera-Bach, der weiter in den Río Pilcomayo und schließlich in den Amazonas mündet. Dies erklärt, wie immer mehr Schwermetalle ins Meer gelangen und über die Nahrungskette in den menschlichen Organismus.